Herr Wegener, an der kommenden F+E-Konferenz werden aktuelle Forschungsergebnisse der Hochschulen auf dem Gebiet von Industrie 4.0 vorgestellt. Was hat der Schweizer Forschungsplatz hier zu bieten?
Konrad Wegener: Die grundlegenden Technologien stehen zur Verfügung. Industrie 4.0 ist nicht durch eine Technologie getrieben. Der Mehrwert entsteht durch die Kombination von Prozessverständnis, Sensorik, Intelligenz und Aktorik. Womit die Forschung aufwarten kann, sind daher Anwendungs- und Umsetzungsergebnisse. Das klingt jetzt nicht so sehr nach Forschung, im Einzelfall ist dann aber noch vieles im Detail wirklich zu erforschen. Bei uns geht es hier häufig um die Frage nach der geeigneten Sensorik, die am Anfang der Datenkette steht. Danach braucht es eine Datenverarbeitung, die in der Lage sein muss, Ausnahmen zu erkennen sowie gleichzeitig Fehlalarme zu unterdrücken, wobei wir uns mit einer Aussagesicherheit von 99.9% häufig noch nicht zufriedengeben können.
Forschungsträchtig ist weiter, wie man physikalische Modelle und Datenanalyse miteinander kombiniert, denn leider ist bei uns im Werkzeugmaschinenbau das Problem von Big Data, dass es nur Small Data gibt. Hier müssen daher die Vorkenntnisse, was physikalische Beschreibungen des Systemverhaltens sind, eine grössere Rolle spielen. Und insgesamt steht die Steigerung der Autonomie der Fertigungsanlagen im Vordergrund, um menschliche Eingriffe so gering wie möglich zu halten.
Die Stärken des Schweizer Forschungsplatzes liegen in der Breite und Qualität des Schweizer Bildungssystems, der anhaltenden Fitness der Schweizer Industrie und der hohen Lebensqualität der Schweiz, die hilft, Talente aus aller Welt anzuziehen.
Gibt es bei den digitalen Technologien und Anwendungen Forschungsaktivitäten, die aus Ihrer Sicht besonders vielversprechend für Schweizer Industrieunternehmen sind? Warum?
Konrad Wegener: Industrie 4.0 ist zunächst eine Technologieplattform, die bereits voll in der Umsetzung ist, deren Potenziale in der Industrie jedoch noch bei weitem nicht ausgeschöpft werden. Es braucht Know-how auf allen Ebenen, von der Hochschule bis zum Montageplatz in der Industrie. Obschon die Basistechnologien Stand der Technik sind, ist hier noch nicht ausgeforscht. Den angesprochenen Mangel an grossen Datenmengen müssen wir kompensieren durch eine geschickte Kombination von physikalischen Modellen mit Datenanalyse und anderen Methoden der künstlichen Intelligenz. Weiter ist die Frage offen, wie der digitale Zwilling auszusehen hat, in welcher Granularität Informationen über Produkt, Prozess und Maschine vorliegen müssen. In der Praxis zeigt sich, dass wir dazu auch neue Sensoren brauchen, die besser integriert und robuster sind sowie bei tiefen Kosten eine hohe Datenqualität liefern.
Und es braucht auch künftig Menschen, aber der Dialog mit der Maschine wird auf einen neuen Level gehoben: Mensch und Maschine profitieren gegenseitig von ihrem Know-how. Menschen liegen mit ihrer Einschätzung häufig ungefähr richtig, aber sie haben Mühe, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, mit Nichtlinearitäten umzugehen oder seltene Ereignisse zu erkennen. Die Kombination von Maschinenwissen und menschlicher Intelligenz hat ein riesiges Potenzial.
Packen die Unternehmen aus Ihrer Erfahrung die Chancen, die ihnen eine Zusammenarbeit mit den Hochschulen bieten kann?
Konrad Wegener: Ja, aber zu wenig intensiv, zu selten und manchmal mit unrealistischen Erwartungen. Es genügt nicht, einmal im Jahrzehnt ein Projekt mit einer Hochschule zu machen, um am Puls der Zeit zu bleiben. Innovation ist ein mühsamer Weg, mit Stolpersteinen und Sackgassen. Die besten Resultate erzielen wir in Zusammenarbeit mit Unternehmen, die immer wieder auf uns zukommen, und die sich der Projektarbeit mit Passion widmen. Die Bereitschaft, externes Know-how in die Firma einzubinden, ist oft nicht gegeben, daran müssen Unternehmen arbeiten. Denn viele Firmen, die nicht Konkurrenten zu sein brauchen, arbeiten an den gleichen Themen, und können daher sehr gut in eine Gemeinschaftsforschung eintreten.
Was raten Sie den Unternehmen?
Konrad Wegener: Insbesondere im Bereich Industrie 4.0 sind Kompetenzen gefordert, die Unternehmen zum Beispiel des Maschinenbaus zum grossen Teil nicht haben können. Zusammenarbeit, so wird von allen Seiten gesagt, sei hier unbedingt notwendig. Alleine sich durchzukämpfen ist nicht zweckmässig und nicht wirtschaftlich. Alle Fachhochschulen und auch wir als Universität bieten Hilfestellung und Gemeinschaftsforschung an, und wir freuen uns, wenn sie angenommen wird.
Derzeit fängt die Industrie an, Entwicklungsprojekte zusammenzustreichen und in diesem Zuge auch Zusammenarbeitsprojekte auf Eis zu legen oder nicht mehr zu beginnen. Dabei könnten sie über die Innosuisse solche internen Projekte auf eine geförderte Finanzierung mit Hochschulbeteiligung umstellen. Auf diese Weise bekommen sie die Hälfte der Projektkosten als Abwicklungskapazität der Hochschulen durch die Innosuisse zufinanziert und die halbe Projektarbeit wird von uns übernommen. Dazu schreiben wir auch den Projektantrag, bei dem lediglich der Businessplan vom Industriepartner kommen muss. Von dieser Möglichkeit macht die Industrie noch zu wenig Gebrauch. Ein Schielen über die Landesgrenzen, wo die Industrie zum Teil direkt subventioniert wird, hilft da nicht wirklich, zumal meist nicht berücksichtigt wird, dass die Antragszeiten teilweise viel länger und die Flexibilität des Fördergebers deutlich geringer ist als in der Schweiz.
Welche Formen kann eine solche Zusammenarbeit haben? Wie sieht das in der Praxis aus?
Konrad Wegener: Wir stellen uns im Idealfall eine auf Vertrauen und Langfristigkeit aufgebaute Partnerschaft vor. Wir versuchen, im ersten Schritt eine Basis für ein gemeinsames Projektverständnis aufzubauen und uns dabei in die Aufgabenstellung des Unternehmens einzudenken. Danach machen wir einen Projektplan, und zwar unabhängig davon, ob wir uns dann mit dem Industriepartner für ein gefördertes oder bilaterales Projekt entscheiden. Manchmal starten wir auch mit einem kleinen Vorprojekt bilateral oder gefördert mit einem Innovationsscheck von Innosuisse. Die Projektinitiative kommt entweder vom Industriepartner oder von uns, und nicht selten startet so etwas, indem man sich mal zusammensetzt und völlig frei Bedürfnisse und technische Möglichkeiten miteinander abgleicht. Das verstehen wir als Akquisitionsverfahren und kostet auch nichts. Projektrahmen können bei uns bilaterale, von Innosuisse geförderte Projekte und EU-Projekte verschiedenster Skalierungen sein.
Und gibt es Besonderheiten im Bereich Industrie 4.0?
Konrad Wegener: Im Zusammenhang mit Industrie 4.0, Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz stehen wir bereits für die Beratung über mögliche Geschäftsmodelle zur Anwendbarkeit der Technologien zur Verfügung. In den meisten Fällen ist hier aber nicht intensive Forschung gefragt, sondern Identifikation von Opportunitäten und dann eine mutige Entscheidung. Im Aufzeigen von Opportunitäten und in der Umsetzung sind wir gerne behilflich. Die mutige Entscheidung kann dem Unternehmen keiner abnehmen. Und wenn es hier um Forschung geht, dann sind es Fragen, wie man an die erforderlichen Messdaten kommt, wie man Modell und Datenanalyse kombiniert.
Nehmen wir zum Beispiel Predictive Maintenance, was vielfach als Einstieg in Industrie 4.0 gesehen wird. Dazu braucht es eine geeignete Sensorik, wobei wir helfen können und was auch forschungslastig sein kann. Weiter braucht es eine Speichertechnik und Anwendungen von Datenanalysetechniken, aus denen dann der Status der Maschine / Komponente abgeleitet werden kann, wobei die Werkzeuge Stand der Technik sind und dennoch in der Anwendung den Herausforderungen im Detail mit Forschung begegnet werden muss. Das grosse Thema am Ende ist dann aber, wie man zu einer Restlebensdauervorhersage kommt – und das ist Forschung pur.
Wie stellt die ETH den Wissen- und Technologietransfer (WTT) sicher?
Konrad Wegener: Die ETH Zürich fühlt sich auch dem WTT verpflichtet. Als WTT-Einrichtung speziell für Produktionstechnologien und Verwandtes agiert bei uns mit sehr gutem Erfolg die inspire AG. Und Erfolg messen wir daran, ob die bediente Industrie Erfolg hat. Die ETH Zürich erreicht direkt über ihre Professuren in der Regel vor allem die grossen Unternehmen, während inspire der mittelständisch strukturierten produktionstechnischen Industrie verpflichtet ist. Eine scharfe Grenze kann nicht gezogen werden. Erfolg in der Projektakquise haben wir in der Forschung, wenn wir auf die Bedürfnisse der Industrie eingehen.
Wie wissen Sie, wo die Industrie steht und welche BedĂĽrfnisse sie hat?
Konrad Wegener: Das finden wir nur über intensive und direkte Kontakte mit den Industriepartnern heraus. Workshops und dergleichen haben immer nur die Erstkontakte gebracht. Danach muss man die Industriepartner Fall für Fall von der Kompetenz und dem Nutzen überzeugen. Leider neigt der Mensch dazu, die eigenen Ansätze zu bevorzugen. Wir erleben es deshalb häufig, dass Unternehmen felsenfest davon überzeugt sind, genau den richtigen Ansatz zu wählen, dessen Reichweite und Nutzen in vielen Fällen aber einfach zu stark vereinfacht ist, um das anstehende Problem vernünftig abzudecken.
Man darf und muss von uns erwarten, dass wir auch aufgrund von Kenntnissen des Technologiemarktes identifizieren, was ein Industrieunternehmen für die Zukunftsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit braucht, dass wir eine Entwicklungsrichtung der Technologien aufzeigen können. Wir stellen aber fest, dass das Klischee von der langsamen und behäbigen Universitäts- oder Gemeinschaftsforschung erfreulicherweise verschwindet, speziell in der Schweiz, wo auch der Fördergeber im Vergleich zum europäischen Umfeld immer noch sehr schnell und flexibel ist.
Zur Person
Konrad Wegener leitet seit 1. Oktober 2003 das IWF der ETH ZĂĽrich und ist Leitprofessor der inspire AG. Seine Forschungsarbeiten betreffen Gestaltung und Optimierung von Werkzeugmaschinen und Fertigungsprozessen. Er studierte Maschinenbau mit Fachrichtung Mechanik und promovierte an der TU Braunschweig.
Besuchen Sie die F+E-Konferenz 2020!
Professor Konrad Wegener hält an der F+E-Konferenz vom 5. Februar 2020 das Eröffnungsreferat. Die Veranstaltung bietet Unternehmen die einmalige Möglichkeit, in einem kompakten Format mit rund 30 Kurzreferaten eine Übersicht zu den die vielfältigen Aktivitäten der Schweizer Hochschulen rund um Themen von Industrie 4.0 zu erhalten. Eine wertvolle Ergänzung ist die Poster-Ausstellung während der Pausen, die es ermöglicht, direkt mit den Referenten in Kontakt zu treten und weiterführende Informationen zu erhalten sowie individuelle Fragen zu stellen.