Frau Reimann, ab Anfang Juli sind Sie Mitglied der Swissgrid-Geschäftsleitung und Leiterin der Business Unit Market – herzlichen Glückwunsch dazu!
Nell Reimann: Vielen Dank! Ich freue mich sehr auf die neue Herausforderung.
Wie sah Ihre bisherige berufliche Laufbahn aus?
Ich bin promovierte Elektroingenieurin und habe einen Executive MBA in Management and Corporate Finance. Meine berufliche Laufbahn begann bei der damaligen EOS. Dort war ich für die Netzberechnungen und die Betriebsplanung zuständig. Nach einem Zwischenhalt bei Alpiq, wo ich die Abteilung Netze leitete, übernahm ich 2013 die Verantwortung für die Abteilung Engineering und die Leitung des Hochspannungsnetzes bei Romande Energie.
Seit 2016 bin ich bei Swissgrid. Damals war ich als Leiterin der Abteilung System Development tätig. Drei Jahre später übernahm ich die Rolle als Head of System Operations. Und ab 1. Juli 2023 bin ich Mitglied der Geschäftsleitung und Leiterin der Business Unit Market.
Das Thema Energieversorgung und -sicherheit ist in aller Munde. Mit welchen Herausforderungen sehen Sie sich aktuell konfrontiert?
Aus Sicht von Swissgrid braucht die sichere Stromversorgung der Schweiz Massnahmen in drei Handlungsfeldern: Zubau an inländischer Produktionskapazität, schnellere Bewilligungsverfahren für die Netzinfrastruktur und ein Stromabkommen mit der EU.
Die Schweiz ist im Winter auf Stromimporte angewiesen. Wir tun gut daran, unsere Importabhängigkeit zu verkleinern und dazu die inländische Produktion auszubauen. Diese zusätzliche Energie muss zu den Verbrauchern gelangen. Das Stromnetz ist daher ein Schlüsselelement für eine nachhaltige Energiezukunft. Der Ausbau des Übertragungsnetzes hält schon heute nicht mit dem Kraftwerksausbau mit. Die Folge sind Netzengpässe und Einschränkungen in der Stromerzeugung. Um den sicheren, leistungsfähigen und effizienten Betrieb des Schweizer Stromsystems zu gewährleisten, müssen bestehende sowie in Zukunft drohende Engpässe beseitigt werden. Der Bau einer Höchstspannungsleitung dauert im Idealfall rund 15 Jahre. Wollen wir innert nützlicher Frist das Stromsystem umbauen, müssen die Bewilligungsverfahren vereinfacht und beschleunigt werden. Zudem müssen die Bewilligungen für Kraftwerke und deren Netzanschluss koordiniert sein und gleichzeitig abgeschlossen werden.
Zum Stromabkommen mit der EU: Die Schweiz ist im Winter nicht nur auf Importe angewiesen. Unser Höchstspannungsnetz ist auch über 41 grenzüberschreitende Leitungen mit dem kontinentaleuropäischen Verbundnetz verknüpft. Das Schweizer Höchstspannungsnetz kann also nicht isoliert betrachtet werden. Es gibt nur ein System, nämlich das europäische Übertragungsnetz, von dem die Schweiz Bestandteil ist. Für den sicheren und stabilen Betrieb des Übertragungsnetzes hängen wir davon ab, dass wir in ganz Europa eng zusammenarbeiten und uns bei Problemen gegenseitig unterstützen. Die EU entwickelt den Strombinnenmarkt konsequent weiter. Wir können uns an diesen Entwicklungen aber nicht beteiligen und sind zunehmend von Gremien sowie Plattformen ausgeschlossen. Hier braucht es dringend eine Lösung.
Swissgrid ist die nationale Netzgesellschaft. Wie sahen die bisherigen Aufgaben des Unternehmens aus, und was wird sich künftig ändern?
Swissgrid verantwortet die laufende Planung, Steuerung und Überwachung des Netzes. Als Besitzerin der Infrastruktur ist Swissgrid auch für die Wartung, Instandhaltung und Modernisierung des gesamten Übertragungsnetzes zuständig.
Im vergangenen Jahr hat der Bund Swissgrid neue Zusatzaufgaben im Rahmen der Sicherstellung der Stromversorgung übertragen. Dazu zählen die operative Abwicklung der Wasserkraftreserve, der Reservekraftwerke sowie der Notstromgruppen.
Was resultiert aus diesen Änderungen?
Es handelt sich um anspruchsvolle neue Aufgaben, die über den ursprünglichen gesetzlichen Auftrag hinausgehen. Die Bewältigung dieser Zusatzaufgaben ist mit Aufwand verbunden und erfordert die entsprechenden Ressourcen.
Zum Thema Unbundling: Wie stellt Swissgrid ihre Unabhängigkeit von anderen Tätigkeitsbereichen der Energieversorgung sicher?
Mit der Revision des Stromversorgungsgesetzes 2009 wurden die Stromproduktion sowie die Infrastruktur voneinander getrennt. Die Unabhängigkeit von Swissgrid ist also gesetzlich festgelegt.
Swissgrid hat in diesem Zusammenhang eine neue Rolle. Was bedeutet das für die operative Abwicklung der Stromreserven sowie deren Finanzierung?
Die Verordnung über die Errichtung einer Wasserkraftreserve überträgt Swissgrid die operative Abwicklung der Wasserkraftreserve. Deren Ziel ist die Rückhaltung von Wasser, damit dieses im Falle einer Strommangellage turbiniert werden kann. Swissgrid hat die Auktion unter Einhaltung der Rahmenbedingungen des Bundes am 25. Oktober 2022 durchgeführt. 2023 wird es weitere Auktionen geben.
Weiter hat der Bundesrat am 23. September 2022 eine Verordnung verabschiedet, die den Bau und den Netzanschluss des temporären Reservekraftwerks in Birr im Kanton Aargau ermöglicht. Swissgrid hat diesen Netzanschluss in Rekordzeit erstellt. Was normalerweise mehrere Jahre dauert, hat unser Team hier in wenigen Monaten geschafft.
Eine weitere Massnahme des Bundes ist der Einbezug von Notstromgruppen mit einer angestrebten Leistung von insgesamt rund 280 MW. Auch hierfür wurde Swissgrid die operative Abwicklung übertragen. Die technischen Anforderungen wurden umgesetzt, und wir werden im Bedarfsfall den Einsatz der Notstromgruppen koordinieren.
Diese Massnahmen des Bundes zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit im Winter sind mit Kosten verbunden. Der Bund hat in der Winterreserveverordnung festgehalten, dass diese über unsere Tarife auf die Stromkonsumentinnen und -konsumenten gewälzt werden. Die Winterreserveverordnung trat am 15. Februar 2023 in Kraft und erweitert die Verordnung zur Einrichtung einer Wasserkraftreserve vom 1. Oktober 2022. Swissgrid weist folglich in den Tarifen 2024 die Kosten erstmals über den separaten Tarif «Stromreserve» aus. Er beläuft sich 2024 auf 1,2 Rappen pro Kilowattstunde. Für einen durchschnittlichen Haushalt mit einem Verbrauch von 4500 Kilowattstunden bedeutet dies rund 54 Franken.
In Zeiten der zunehmenden Elektromobilität stellt sich auch die Frage nach dem Ausbau der Stromproduktion aus erneuerbaren Energiequellen. Welche Antworten hat Swissgrid darauf?
Das Stromnetz wird immer dezentraler und flexibler. Mit E-Autos, PV-Anlagen, Heimbatterien und Wärmepumpen können viele Parteien bis hin zur Ebene Haushalt die Stromproduktion beeinflussen. Deshalb hat Swissgrid zusammen mit den Übertragungsnetzbetreibern TenneT (NL) und Terna (IT) die Crowd Balancing Plattform Equigy gegründet. Weitere Übertragungsnetzbetreiber sind dazu gekommen. Gemeinsam arbeiten wir an der Integration von dezentralen Energiequellen, die zusammen eine zusätzliche Flexibilität im Markt darstellen können.
Flexibilität ist wichtig, weil das Übertragungsnetz nur funktioniert, wenn Produktion und Verbrauch von Strom im Gleichgewicht sind. Die Frequenz von 50 Hertz muss so stabil wie möglich gehalten werden. Bei einem Ungleichgewicht von Produktion und Verbrauch setzt der Übertragungsnetzbetreiber Regelenergie ein. Diese stellt eine Reserve dar, die Kraftwerke oder andere Anbieter im Auftrag der Übertragungsnetzbetreiber bereithalten und die kurzfristig abgerufen werden kann.
Die Blockchain-basierte Crowd Balancing Platform ergänzt die bereits bestehenden Produkte im Regelenergiemarkt und ermöglicht die Integration von kleinen, fragmentierten und verbraucherbasierten Einheiten in diesen Ausgleichsprozess.
Wie beeinflusst die aktuell angespannte weltpolitische Lage Ihr Geschäft?
Die angespannte Versorgungslage in ganz Europa hat uns stark beschäftigt. Der bewaffnete Konflikt in der Ukraine hatte keine direkten Auswirkungen auf den Betrieb des Schweizer Übertragungsnetzes. Die unsichere Lage der Gasversorgung sowie die geringe Verfügbarkeit der französischen Kernkraftwerke hat aber zu einem massiven Anstieg der Strompreise geführt. Swissgrid betreibt zwar keinen Stromhandel, beschafft aber die Produkte, die für den stabilen Betrieb des Übertragungsnetzes notwendig sind. Wir sind also von den hohen Strompreisen betroffen. Entsprechend hoch war der Beschaffungsaufwand im vergangenen Jahr. Diese höheren Kosten wirken sich auf die Swissgrid-Tarife aus.
Wie lautet Ihr Appell an die Politik?
Es braucht eine gemeinsame, klare Vision für die Zukunft und die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen, Anreize und Finanzierungsmöglichkeiten. Nur so kann die vom Schweizer Stimmvolk beschlossene Transformation des Systems, namentlich die Energiestrategie 2050, erfolgreich umgesetzt werden. Ausserdem sollte der Abschluss eines Stromabkommens mit der EU absolute Priorität geniessen.
Das Motto des 21. Swissmem Symposiums am 31. August in Zürich, bei dem Sie einen Vortrag zum Thema Energiewende/Energiestrategie 2050 halten werden, lautet: «Erfolgreich durch unsichere Zeiten – Risikomanagement in der Fertigungsindustrie». Welche Chancen sehen Sie als Netzbetreiber durch die Digitalisierung und Automatisierung?
Digitalisierung und Automatisierung bieten Swissgrid die Chance, den Betrieb und den Unterhalt des Übertragungsnetzes noch sicherer und effizienter zu gestalten. Swissgrid investiert deshalb im Bereich Innovation & Digitalisierung in neuste Technologien. Zum Beispiel ermöglicht das Pilotprojekt «Pylonian» mithilfe von Sensoren und dem IoT, das Netz über den gesamten Lebenszyklus zu überwachen und damit gezielt Instandhaltungsarbeiten zu planen und durchzuführen. Weitere Projekte betreffen den Einsatz von Blockchain-Technologie, Drohnen und Augmented Reality in verschiedenen Arbeitsbereichen. Digitalisierung und Innovation sind zentrale Themen für uns. Entsprechend sind sie Bestandteil der Unternehmensstrategie.
Wie sieht Ihre langfristige Netzplanung aus?
Damit das Übertragungsnetz künftigen Bedürfnissen für eine sichere Stromversorgung gerecht wird, muss es langfristig weiterentwickelt werden. Dafür erstellt Swissgrid periodisch einen Mehrjahresplan: das Strategische Netz. Das momentane Programm «Strategisches Netz 2025» umfasst zehn Projekte. Die ermittelten Projekte befinden sich in unterschiedlichen Stadien der Umsetzung. Derzeit erarbeitet Swissgrid das «Strategische Netz 2040», welches das Übertragungsnetz fit für die Zukunft machen wird.
In unserem Vorgespräch erwähnten Sie das «fehlende Stromabkommen». Wie sehen die Herausforderungen und Ihre Lösungsansätze aus?
Das Schweizer Übertragungsnetz ist mit 41 grenzüberschreitenden Leitungen mit den Nachbarn verbunden. Die Schweiz liegt nicht nur im Herzen von Europa, sie nimmt auch eine zentrale Rolle im europäischen Stromsystem ein. Deshalb arbeiten wir sehr eng und sehr gut mit den anderen europäischen Übertragungsnetzbetreibern zusammen. Diese Zusammenarbeit ist allerdings gefährdet.
Die EU-Regeln für den Netz- und Marktbetrieb entfernen sich immer weiter von den entsprechenden Schweizer Regularien. Ohne Stromabkommen gelten formell unterschiedliche Spielregeln beidseits der Grenzen. Die Stabilität des europäischen Verbundnetzes basiert aber gerade auf dem Prinzip, dass sich alle Teilnehmer an dieselben Spielregeln halten.
Swissgrid ist ohne Stromabkommen von der Teilnahme an der EU-Marktkopplung für die wesentlichen Zeitbereiche des Stromhandels (Day-Ahead und Intraday) ausgeschlossen. Hierdurch entstehen ungeplante Lastflüsse durch die Schweiz, die zunehmend die Netzstabilität gefährden. Swissgrid muss Strom – vornehmlich aus Wasserkraft – zur Stabilisierung einsetzen. Gleichzeitig sind einheimische Produzenten insbesondere aus Kurzfrist- und Balancing-Märkten ausgeschlossen. Zudem droht uns der Ausschluss aus den europäischen Regelenergiekooperationen. Zwar nimmt Swissgrid bisher noch an der Regelenergieplattform TERRE (Trans European Replacement Reserve Exchange, langsame tertiäre Regelenergie) teil, die weitere Teilnahme ist aber gefährdet. Das gilt auch für die Regelenergieplattformen MARI (Manually Activated Reserves Initiative, schnelle tertiäre Regelenergie) und PICASSO (Platform for the International Coordination of Automated Frequency Restoration and Stable System Operation; sekundäre Regelenergie) sowie der dazugehörenden Netting-Prozedur IGCC (Netzregelverbund, International Grid Control Cooperation). Das führt zu erheblichen Herausforderungen für die Netzstabilität.
Swissgrid arbeitet mit den europäischen Übertragungsnetzbetreibern an einer möglichst weitgehenden Inklusion der Schweiz in netzsicherheitsrelevante Prozesse, die in der EU gesetzlich vorgeschrieben sind. Hierzu verhandelt sie technische Verträge mit den europäischen Übertragungsnetzbetreibern. Zu Beginn dieses Jahres konnte der bereits im Dezember 2021 abgeschlossene Vertrag mit der Kapazitätsberechnungsregion «Italy North» um ein Jahr verlängert werden. Auch für die Nordgrenze der Schweiz möchte Swissgrid einen entsprechenden Vertrag mit der Kapazitätsberechnungsregion «CORE» abschliessen. Die Vertragsverhandlungen sind aufgrund der Vielzahl der beteiligten Akteure deutlich komplexer, und ein Vertragsabschluss ist nicht vor 2024 zu erwarten.
Diese privatrechtlichen Verträge stellen aber langfristig keinen adäquaten Ersatz für ein Stromabkommen dar. Swissgrid stösst daher mit Lösungen auf technischer Ebene an die Grenze ihrer Handlungsmöglichkeiten.
Wie wirkt sich das auf die Strompreise aus?
Swissgrid muss vermehrt Strom zur Stabilisierung des Netzes einsetzen. Das ist mit Kosten verbunden, die sich wiederum auf unsere Tarife auswirken. Gemäss der 2021 vom Bundesamt für Energie und der eidgenössischen Elektrizitätskommission beauftragten Analyse «Stromzusammenarbeit CH-EU» kostet das fehlende Stromabkommen die Schweiz bis zu 300 Millionen Euro pro Jahr.
Welche Vor- und Nachteile hat die Schweizer Energieversorgung im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarländern?
Ein klarer Vorteil der Schweiz ist die Wasserkraft. Rund 60 Prozent der schweizerischen Stromproduktion stammt aus der Wasserverstromung. Einerseits entstehen durch Wasserkraft als erneuerbare Energie keine CO2-Emmissionen. Andererseits sind insbesondere Grosswasserkraftwerke flexibel einsetzbar und damit für die Stabilisierung des Netzes wichtig.
Als Nachteil würde ich den noch schleppenden Ausbau weiterer erneuerbarer Energien nennen. Die Schweiz hinkt hier im europäischen Vergleich hinterher.
Das Interview führte Joachim Vogl von der Technischen Rundschau.