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Risikomanagement in der Fertigung

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Liefernetzwerke mĂĽssen Lieferketten ersetzen

Jan-Egbert Sturm ist Professor für Angewandte Wirtschaftsforschung am Department für Management, Technologie und Ökonomie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und gleichzeitig Direktor der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH. Beim 21. Swissmem Symposium, welches am 31. August 2023 unter dem Motto «Erfolgreich durch unsichere Zeiten – Risikomanagement in der Fertigungsindustrie» im Lake Side Zürich stattfindet, wird er als Referent auftreten. Grund genug, um ihm im Exklusivinterview der «Technischen Rundschau» bereits im Vorfeld ein paar Fragen zu stellen.

Herr Professor Sturm, Sie sind seit Oktober 2005 Professor für Angewandte Wirtschaftsforschung am Department für Management, Technologie und Ökonomie der ETH Zürich und gleichzeitig Direktor der KOF Konjunkturforschungsstelle. Was waren Ihre persönlichen Highlights in dieser Zeit?

Jan-Egbert Sturm: Es waren einige bewegte Jahre, die das Leben für uns Konjunkturforscher spannend und interessant machen, auch wenn man es natürlich lieber nicht so gesehen hätte. Ich denke dabei vor allem an die Finanzkrise, die starken Aufwertungsphasen des Schweizer Frankens und die Pandemiejahre.

Gab es auch Herausforderungen, die Sie nicht zu Ihrer Zufriedenheit lösen konnten?  

In der Regel müssen wir ‹nur› beobachten und sind nicht selbst gefordert, die volkswirtschaftlichen Probleme zu lösen oder zumindest die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Das ist die Aufgabe der Politik. Aber auch wir sind trotz modernster wissenschaftlicher Methoden nicht vor Fehl­einschätzungen gefeit. Es liegt in der Natur der Sache, dass jede Konjunkturprognose mit dem Risiko behaftet ist, durch unerwartete Ereignisse, zum Beispiel den Ausbruch einer Pandemie, schnell obsolet zu werden. In solchen Fällen müssen wir unsere Prognose nachjustieren, uns sozusagen selbst korrigieren.

Welche wissenschaftlichen Methoden wenden Sie an, um Prognosen abgeben zu können, und wie hoch ist die Trefferquote Ihrer Prognosen?

Wir verwenden verschiedene ökonometrische Modelle, um die uns zur Verfügung stehenden Daten zu analysieren. Die Genauigkeit hängt vor allem vom betrachteten Zeithorizont ab. Dank unserer Konjunkturumfragen sind unsere Kurzfristprognosen in der Regel sehr zuverlässig.

Sie werden beim 21. Swissmem Symposium am 31. August in ZĂĽrich einen Vortrag halten. Das Motto des Symposiums lautet: «Erfolgreich durch unsichere Zeiten – Risikomanagement in der Fertigungsindustrie». Ganz allgemein gefragt: Wie ist die Schweiz aus Ihrer Sicht durch die Pandemie gekommen, und wie geht sie aktuell mit der Energiekrise um? 

Es hätte noch schlimmer kommen können. Insbesondere in der ersten Welle der Pandemie hat die Schweizer Politik tatkräftig, unbürokratisch und schnell geholfen. Auch deshalb waren die wirtschaftlichen Schäden und die Zahl der Todesopfer etwas geringer als in vielen Nachbarländern. Das zögerliche Handeln in den folgenden Wellen hat dies leider zumindest teilweise wieder wettgemacht. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht ist die Energiekrise nicht mit der Pandemie vergleichbar. Statt eines massiven Einbruchs hat sie nur zu einer gewissen Verlangsamung des Wachstums geführt. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die notwendige Energiewende mittel- bis langfristig zu grösseren wirtschaftlichen Veränderungen führen wird als die Pandemie.

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Mit welchen Krisen werden wir Ihrer Meinung nach noch konfrontiert werden? Wo lauern die grössten Gefahren? 

Die meisten Krisen sind zwar im Nachhinein gut erklärbar, aber im Voraus schwer vorhersehbar. Deshalb fällt es mir schwer, eine vernünftige Antwort zu geben. Wenn ich es trotzdem versuche, kommt man automatisch auf die hohe Staatsverschuldung zu sprechen, die früher oder später zurückgezahlt werden muss. Auch der demographische Wandel und die damit verbundenen Gefahren für den Sozialstaat, der technologische Wandel, der manche Menschen ins Abseits drängen könnte, und die Gefahr einer neuen Seuche durch Massentierhaltung und das Eindringen des Menschen in die biologischen Lebensräume wildlebender Tiere sind hier zu nennen.

Was macht die Schweiz widerstandsfähiger als andere europäische Volkswirtschaften, zum Beispiel Deutschland? 

Stabile politische Strukturen und Institutionen in Verbindung mit flexiblen privatwirtschaftlichen Prinzipien schaffen Planungssicherheit und ermöglichen den Unternehmen eine ständige Anpassung an neue Gegebenheiten. Der Wettbewerbsdruck, teilweise verstärkt durch eine sich stetig aufwertende Währung, hat die Wirtschaft abgehärtet und flexibel gehalten.

Sind wir durch die Pandemie resilienter geworden und fassen die Betrachtungen genĂĽgend weit, um uns fĂĽr die Entwicklungen der kommenden Jahre zu rĂĽsten? 

Die Schweiz hat bereits gezeigt, dass sie resilient ist. Die durch die Pandemie ausgelöste Verschiebung von Effizienz hin zu Resilienz und Zuverlässigkeit kommt in diesem Sinne der Schweizer Wirtschaft zugute. Im Vergleich zum Ausland hatte sie sich bereits vor der Pandemie in diese Richtung spezialisiert.

Was sind die Lehren aus der Corona-Krise und dem Ukraine-Krieg in Bezug auf die Lieferketten? 

Wir müssen in Liefernetzwerken und nicht in Lieferketten denken. Nur durch Diversifizierung können wir robuster werden. Das geht aber auf Kosten der Effizienz. Wir müssen daher bereit sein, für diese Form der Qualität auch höhere Kosten und damit einen höheren Preis zu akzeptieren.

Kommt es zu einer Deglobalisierung?

Nein. Die globalen Beziehungen werden sich verändern und zum Teil kontinentaler werden. Eine Despezialisierung, die mit einer Deglobalisierung einherginge, wie sie sich die meisten Menschen vorstellen, würde zu erheblichen Wohlfahrts-, Effizienz- und Resilienzverlusten führen, die ökonomisch kaum vorstellbar sind.

Vor dem Hintergrund, dass die Schweiz ein Hochlohn- und Hochkostenland ist: Ist es fĂĽr Schweizer Unternehmen angesichts der geopolitischen Spannungen eine gute Strategie, die Produktion wieder vermehrt in die Schweiz zu verlagern?

Es hat einen Mehrwert, in einem Hochqualitätsland wie der Schweiz zu produzieren. Es hat aber auch einen Mehrwert, insbesondere standardisierte Prozesse ins Ausland zu ver­lagern. Solche betriebswirtschaftlichen Entscheidungen muss jedes Unternehmen für sich treffen.

Wo sehen Sie den grössten politischen Hebel, um den KMU der MEM-Branche ein effektives Wirtschaften zu ermöglichen beziehungsweise zu erleichtern?   

Für die Politik bleibt es wichtig, die richtigen Rahmen­bedingungen zu setzen, damit die Privatwirtschaft innerhalb der von der Politik gesetzten Grenzen optimal agieren kann. Wie immer sind einfache allgemeine Spielregeln sinnvoller als der Versuch, die Wirtschaft sehr spezifisch zu steuern. Die Annahme, der Staat sei der bessere Betriebswirt, scheint mir nicht angebracht. Er kann aber in der Regel gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekte besser überblicken.

Wie sieht es an der Inflationsfront aus? Inwieweit werden wir zu den tiefen Inflationsraten vor der Pandemie zurĂĽckkehren?

Wir haben jahrelang gekämpft, um aus der Welt der niedrigen Inflation herauszukommen. Es war natürlich nicht geplant, dass wir über das Ziel hinausschiessen. Aber die Zentralbanken dieser Welt werden alles daran setzen, mittel­fristig die Inflationsziele, die sie sich gesetzt haben, wieder zu erreichen. Mit anderen Worten: Die Inflationsraten werden wieder sinken, aber nicht auf das Niveau, das wir in den Jahren vor der Pandemie hatten.

Sind steigende Zinsen eine Gefahr für unsere Wirtschaft und werden wir länger damit konfrontiert sein?

Eine Normalisierung der Zinssätze haben wir uns schon lange gewünscht. Wir hätten es jedoch vorgezogen, wenn dies in einem langsameren Tempo geschehen wäre. Wie uns die Geschichte jedoch gelehrt hat, sind höhere Zinssätze als die, die wir zwischen der Finanzkrise und der Pandemie erlebt haben, eher wünschenswert und sicher etwas, mit dem die Wirtschaft arbeiten kann.

Kann der Fachkräftemangel die Schweizer Wirtschaft bremsen, und welche grundsätzlichen Lösungsansätze gibt es?

Ja, wenn Unternehmen aufgrund von Arbeitskräfte­mangel nicht so viel produzieren können, wie sie wollen, verlangsamt dies definitionsgemäss das Wirtschaftswachstum. Grundsätzliche Lösungen bestehen darin, inländische Arbeits­kräfte, die noch nicht auf dem Arbeitsmarkt aktiv sind, zur Arbeitsaufnahme zu motivieren, und denjenigen, die bereits auf dem Arbeitsmarkt aktiv sind, Anreize zu geben, ihre Erwerbstätigkeit auszuweiten. Auch die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland kann weiterhin für Entlastung sorgen. Ansonsten müssen wir uns damit abfinden, dass die Nachfrage zunehmend aus anderen Teilen der Welt gedeckt werden muss.

Aus der anderen Perspektive: Welche Tipps geben Sie Fachkräften, die nach einer neuen Herausforderung Ausschau halten, mit auf den Weg? 

Seien Sie realistisch, was Sie können und was nicht. Unternehmen suchen in vielen Bereichen händeringend nach Arbeitskräften. Verkaufen Sie sich nicht unter Wert, aber bleiben Sie realistisch. Mit einem «Mismatch» ist niemandem gedient – weder dem Arbeitgeber noch dem Arbeitnehmer.

Wie beurteilen Sie derzeit das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU, und können wir es uns leisten, bei der Integration auf die Bremse zu treten?

Dieses Verhältnis war schon einmal besser, und die Verhandlungsposition der Schweiz verschlechtert sich schleichend. Unter dem Strich leidet die Schweiz stärker unter dem faktischen Integrationsrückschritt als die Europäische Union.

Welche Chancen bietet die Digitalisierung fĂĽr die Schweizer Wirtschaft? Wo sehen Sie hier die grössten Chancen?  

Die Schweizer Wirtschaft ist flexibel und innovativ. Solange wir in der Lage sind, bei der Digitalisierung mit an der Spitze zu stehen, wird dies unser Geschäftsmodell stärken, qualitativ hochstehende Produkte und Dienstleistungen anzubieten, für die Kunden bereit sind, einen höheren Preis zu bezahlen. Im Pharmabereich werden die Digitalisierung und der Einsatz von Künstlicher Intelligenz sicherlich einen Innovationsschub bringen, von dem die gesamte Menschheit profitieren wird. Auch bei der Wartung hochkomplexer Maschinen spielt die Digitalisierung eine immer grössere Rolle.

Daten sind das Gold des 21. Jahrhunderts. Gibt es bei aller Euphorie auch Grund zur Skepsis?  

Im Gegensatz zu Gold scheint die Menge an Daten nahezu unbegrenzt zu sein. Es ist nicht immer einfach, sie zu lesen, zu verstehen und zu interpretieren. Darüber hinaus wirft es soziale und politische Probleme auf, wenn wir uns alle wie in einem gläsernen Käfig fühlen, in dem jeder von allen Seiten durchleuchtet werden kann. Tatsächlich sind viele Daten personenbezogen. Vernünftige Regeln für den Umgang mit diesen zu anonymisierenden Daten sind notwendig und müssen mit der Entwicklung unserer technologischen Fähigkeiten angepasst werden.

Wie wird sich die MEM-Branche Ihrer Meinung nach weiterentwickeln? Wo stehen wir mittel- bis langfristig? 

Jede Branche entwickelt sich ständig weiter. Der Strukturwandel ist generell unaufhaltsam, so auch in der MEM-Branche. Wohin die Zukunft führt, ist schwer zu sagen. Dass der Einsatz von Künstlicher Intelligenz weitere Effizienz- und Qualitätssprünge bringen wird, scheint mir klar. Weniger klar ist, wie und wo. Das wird der Markt mit seinen innovativen Anbietern und immer anspruchsvolleren Kunden bestimmen.

Was wĂĽnschen Sie sich fĂĽr die Schweizer Fertigungsindustrie? 

Die Fähigkeit, die richtigen Arbeitskräfte zu finden und neue Technologien und Verfahren einzusetzen.

Worauf sind Sie besonders stolz und warum?

Auf meine Frau und meine zwei Kinder. Sind wir nicht alle stolz auf die, die uns am nächsten stehen?

Was treibt Sie persönlich an? 

Mich jeden Tag mit interessanten Menschen und Themen auseinandersetzen zu können und dabei hoffentlich die Welt ein bisschen besser zu machen.

Um den Menschen Jan-Egbert Sturm noch etwas besser kennenzulernen: Was machen Sie gerne in Ihrer Freizeit? 

In meiner Freizeit spiele ich seit meiner Jugend gerne Tischtennis, und seit ich in der Schweiz arbeite, wandere ich gerne in den schönen Schweizer Bergen. 

Das  Interview fĂĽhrte Joachim Vogl von der «Technischen Rundschau».

 

 

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Letzte Aktualisierung: 15.05.2023