Was sind derzeit aus Ihrer Sicht die hauptsächlichen Treiber für die Transformation in der Industrie?
Nathaly Tschanz: Die Digitalisierung im Allgemeinen spielt sicher eine zentrale Rolle, aber es gibt noch weitere entscheidende Einflussfaktoren wie die Demografie, die Notwendigkeit zur Diversifizierung von Lieferketten zum Beispiel oder die Dekarbonisierung. Und ich möchte hier auch speziell disruptive Innovationen erwähnen, die zwar mit der Digitalisierung einhergehen, aber eine wichtige eigenständige Rolle für das «Future Business» spielen.
Matthias Kühne: Der stärkste Trend in der Industrie ist derzeit die Künstliche Intelligenz. Das wurde auch auf der jüngsten Hannover Messe sehr deutlich. Zwei weitere Treiber sind aus meiner Sicht die Regulierung und die Cybersicherheit. Unternehmen sehen sich zunehmend mit verschiedenen rechtlichen Auflagen konfrontiert (z.B. Data Act, Cyber Act, NetZero etc.) und die Cybersicherheit darf von den Unternehmen nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Und natürlich gewinnen auch Nachhaltigkeitsthemen zunehmend an Relevanz.
Die Unternehmen befinden sich also insgesamt in einem äusserst anspruchsvollen Spannungsfeld. Lassen Sie uns einen Blick auf die technologischen Entwicklungen werfen. Was hat aktuell den grössten Einfluss auf die Industrie?
Matthias Kühne: Gerade die generative Künstliche Intelligenz ist eine Technologie, mit der sich vergleichsweise schnell Nutzen generieren lässt. Hier müssen sich die Unternehmen unbedingt mit den Potenzialen auseinandersetzen. Allein schon, um im Wettbewerb nicht den Anschluss zu verlieren. Aber es gibt weitere vielversprechende Einsatzmöglichkeiten für KI, von Vision-Anwendungen über Assistenzsysteme bis hin zu Automatisierungslösungen und vieles mehr.
Nathaly Tschanz: Dem stimme ich zu. Neben der generativen KI ist der Bereich des maschinellen Lernens und die Fähigkeit von IT-Systemen, selbständig Probleme zu lösen, von Bedeutung. Dies ermöglicht auch interessante Weiterentwicklungen in der Robotik. Weitere Technologiebausteine sind leistungsstarke Netzwerktechnologien, Augmented und Virtual Reality, Blockchain oder auch 3D-Modellierung.
Was sind die Voraussetzungen, dass Unternehmen diese Potenziale nutzen können?
Nathaly Tschanz: Neue Technologien können Märkte verändern. Das bietet Unternehmen die Chance, sich und ihre Produkte neu zu erfinden, sei es im Bereich klimaneutraler Technologien, digitaler Geschäftsmodelle oder auch im industriellen Metaverse-Kontext. Vielversprechend ist beispielsweise der Einsatz digitaler Zwillinge, die es erlauben, komplexe Simulationen virtuell durchzuführen und damit die Effizienz zu steigern, Prozesse zu optimieren, Risiken zu minimieren und Kosten zu sparen.
Matthias Kühne: Auch die Ausbildung und Förderung von Mitarbeitenden spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Durch den Einsatz neuer Technologien entstehen oft neue Funktionen und Aufgaben, die den gezielten Aufbau von Know-how erforderlich machen. Ist eine interne Weiterentwicklung nicht oder nur bedingt möglich, empfiehlt es sich, externe Expertise beizuziehen. Kooperationen werden zunehmend zu einem Schlüsselfaktor, um den komplexen Herausforderungen im Transformationsprozess erfolgreich zu begegnen.
Können Sie noch etwas genauer auf diese Herausforderungen eingehen?
Matthias Kühne: Neue Technologien bieten zusätzliche Geschäftsmöglichkeiten, erhöhen aber auch den Wettbewerb und bergen für das einzelne Unternehmen das Risiko, dass andere Marktteilnehmer durch einen technologischen Vorsprung ihre Marktposition ausbauen. Gleichzeitig macht es keinen Sinn, jede neue Entwicklung mitzumachen; das kann ein Unternehmen an gefährliche Kapazitätsgrenzen bringen.
Jede Art von Veränderung bedingt Anpassungsleistungen in der Organisation. Eine gute Einbindung der Mitarbeitenden spielt für den Projekterfolg eine wesentliche Rolle, wird aber gerade im Umfeld der Digitalisierung oft vernachlässigt. Es hilft, ein klares Vorgehen zu definieren, das auch strategisch möglichst gut abgestützt ist.
Nathaly Tschanz: Die Einführung neuer Technologien muss auf einer soliden Basis erfolgen. Die nahtlose Integration und das Zusammenspiel verschiedener Plattformen und Systeme ist eine ressourcenintensive und längerfristige Aufgabe. Nicht selten sind die Unternehmen aber bereits im Tagesgeschäft stark gefordert. Einerseits gilt es also, das Kernbusiness zu pflegen und zu optimieren, andererseits müssen Unternehmen sich damit auseinandersetzen, ob das aktuelle Geschäftsmodell unter Berücksichtigung der Trends auch in fünf Jahren noch tragfähig ist. Es bedarf eines planvollen Prozesses, um die Veränderungen zu koordinieren. Das schliesst mehrere Bereiche ein wie Kommunikation, Befähigung der Mitarbeitenden, Umsetzung, Steuerung und Kontrolle.
Was empfehlen Sie den Unternehmen?
Matthias Kühne: Orientierung bietet ein konsequenter und breiter strategischer Ansatz, in dem auch Themen wie die Digitalisierung oder die Nachhaltigkeit verankert sind. Aufgabe der Unternehmensführung ist es dabei, Personen mit entsprechender Expertise in den Strategieprozess einzubinden.
Wichtig ist ein ressourcenorientiertes Vorgehen. Geplante Projekte sollten priorisiert und hinsichtlich ihrer Umsetzungsdauer strukturiert werden. Für KMU ist es sinnvoll, sich auf eine kleine Anzahl Projekte mit unterschiedlicher Laufzeit zu konzentrieren.
Externe Unterstützung ist ebenfalls ein Thema. Auch wenn man in der Vergangenheit alle Herausforderungen souverän selbst gemeistert hat: Bei der heutigen Geschwindigkeit und Komplexität der technologischen Entwicklungen ist es schwierig, den Überblick zu behalten und den Mehrwert für das eigene Unternehmen zu erkennen.
Es geht bei dieser Transformation auch um einen Kulturwandel im Unternehmen. Worauf gilt es hier zu achten?
Nathaly Tschanz: Die Versuchung ist gross, die Transformation nur an Technologien und Prozessen festzumachen und die sozialen Komponenten zu vernachlässigen. Viele Unternehmen wollen schnell messbare Resultate sehen. Aber Change-Prozesse brauchen Zeit. Auch wenn ein Innovationsprojekt vielleicht nicht die gewünschten Resultate erzielt, so hat man dennoch etwas gelernt. Und dieser Know-how-Aufbau ist wichtig für die Zukunft.
Ob Unternehmen die Herausforderungen erfolgreich meistern, hat aus meiner Sicht auch viel mit dem Spirit zu tun. Wichtig sind ein agiles Mindset, insbesondere im Umgang mit disruptiven Technologien, ein «human-centred approach», mit dem Entwicklungen nahe am Kunden angegangen werden, aber auch eine gute Fehlerkultur.
Praxiszirkel von Next Industries
Der Austausch mit Experten und anderen Industrieunternehmen ist eine wichtige Möglichkeit, um Wissen zu teilen, Inspiration zu holen und konkrete Anwendungen kennenzulernen. In den Praxiszirkeln von Next Industries entsteht ein starkes Netzwerk, in dem wertvolles Know-how und Erfahrungen ausgetauscht werden, auch über die Treffen hinaus.
https://www.nextindustries.ch/wissen-industrie-40/praxiszirkel20
Immersive Realities Center (IRC) an der Hochschule Luzern
Als national und international anerkanntes Kompetenzzentrum für immersive Technologien ist das Team in den Bereichen Forschung, Ausbildung, Weiterbildung und Dienstleistung tätig. Das Immersive Realities Research Lab betreibt interdisziplinäre Forschung in mehreren Themenfeldern (fortschrittliche Interaktions- und Content-Technologien, Game Design & Development, User Experience etc.).