Frau Roth, Sie bearbeiten seit über zehn Jahren Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen im Dienste der Tech-Industrie. Was waren die Highlights in dieser Zeit, an die Sie sich gerne zurückerinnern?
Freude bereitet mir immer, wenn ich ein Mitgliedsunternehmen wirkungsvoll unterstützen und weiterbringen kann. Der wachsende Dschungel an Verordnungen und Gesetzen im Umwelt- und Nachhaltigkeitsbereich ist schwierig zu durchschauen. Vor allem kleinere und mittlere Unternehmen sind sehr dankbar, wenn ihnen jemand hilft, sich auf das Wesentliche zu fokussieren, und ihnen einen Weg aufzeigt, wie sie die Anforderungen angehen können.
Wie sieht ein ganz normaler Arbeitstag, sofern es den denn überhaupt gibt, im Leben der Ressortleiterin Umwelt bei Swissmem aus?
Ein grosser Teil meiner Aufgaben besteht darin, Informationen zu verarbeiten, zu filtern, aufzubereiten und weiterzuleiten. Konkret bedeutet dies zum Beispiel, die neusten Entwicklungen in den wichtigsten Dossiers im Parlament zu verfolgen. Oder eine Mitgliederanfrage zu beantworten. Zwischendurch muss eine Stellungnahme für eine Vernehmlassung entworfen oder eine Sitzung unserer Umwelt- und Energiekommission vorbereitet werden.
Das 22. Swissmem Symposium findet am Donnerstag, 29. August 2024 im Lake Side Zürich unter dem Motto «Nachhaltigkeit – Pflichten und Chancen der Tech-Industrie» statt. Mit welchen Themen oder Herausforderungen sieht sich die Schweizer Industrie aktuell konfrontiert?
Die aktuellen Herausforderungen kommen von zwei Seiten: Das regulatorische Umfeld zu Nachhaltigkeit stellt immer höhere Anforderungen an Unternehmen. Kaum haben Unternehmen eine neue Regelung verarbeitet und die geforderten Massnahmen umgesetzt, kommt die nächste. Neben dem Tempo ist auch die Komplexität der Aufgaben enorm. Momentan schmerzen Berichterstattung und das deutsche Lieferkettengesetz besonders. Dabei werden primär grössere Unternehmen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung und zu Sorgfaltspflichten beziehungsweise Menschenrechten und Umweltschutz in den Lieferketten verpflichtet. Auf der anderen Seite stehen die globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Wasserknappheit oder Energieversorgung: Die Tech-Industrie ist eine der Industrien, die zu diesen Herausforderungen konkrete technische Lösungen beiträgt.
Wie sehen denn die Lösungsvorschläge der Tech-Industrie für diese Herausforderungen aus?
Die Unternehmen der Tech-Industrie liefern zahlreiche energieeffiziente und umweltfreundliche Lösungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Das Spektrum reicht von der Batterietechnologie über die Trinkwasserversorgung bis zur Lebensmittelverarbeitung, von der Elektrifizierung der Stadtreinigung bis zum energieeffizienten Ventil in der Gebäudetechnik oder dem effizienten Antrieb, um nur wenige Beispiele zu nennen.
Welchen Beitrag leistet die Tech-Industrie an den einzelnen SDGs, also an den Sustainable Development Goals?
Die bereits genannten und weitere Beispiele tragen zu den SDGs für sauberes Wasser, nachhaltige Energieversorgung, ressourceneffiziente industrielle Produktion, nachhaltige Städte, Mobilität und Infrastruktur, sowie zum Klimaschutz bei. Die guten Arbeitsbedingungen und Ausbildungsplätze unserer Branche in der Schweiz und auf der ganzen Welt sind ebenfalls zu nennen. Denn zahlreiche Swissmem-Mitglieder betreiben Fabriken in Ländern ausserhalb Europas, zum Beispiel in China, und setzen dort die gleichen Sicherheits- und Umweltstandards um wie in der Schweiz. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Arbeitssicherheit und zur Vermeidung von Emissionen. Andere wiederum investieren seit Jahren in die Berufsbildung in diesen Ländern, beispielsweise in Indien – ein wichtiger Beitrag für eine gute Ausbildung und Perspektive auf dem Arbeitsmarkt.
Welche Zielkonflikte ergeben sich daraus?
Technische Lösungen benötigen selbst oft Strom, aber auch Materialien, die wiederum aus Nachhaltigkeitssicht ungünstig sein können. Die energetische Verbesserung einer Maschine in ihrer Nutzungsphase kann dazu führen, dass mehr oder anderes Material für ihre Produktion verwendet werden muss, welches einen höheren ökologischen Fussabdruck verursacht. Eine Lösung für die Kreislaufwirtschaft, die sehr viel Energie benötigt, hat kaum Zukunft. Wichtig ist deshalb, die Gesamtsicht nicht aus den Augen zu verlieren und die Zielkonflikte zu adressieren.
Apropos Kreislaufwirtschaft: Wie sieht diese in der Tech-Industrie aus?
So komplex die Kreislaufwirtschaft in einer umfassenden Perspektive ist, so vielfältig sind die Lösungsansätze in der Tech-Industrie. Die Recyclingtechnologien aus unserer Branche spielen heute schon eine wichtige Rolle und werden mit zunehmender Schliessung der Materialkreisläufe noch wichtiger. Vermehrt wird Recyclingmaterial in Produkten getestet oder verwendet. Produkte werden teilweise modulartig gebaut, damit eine Rückgewinnung der Wertstoffe und der Wiedereinsatz der Module möglich ist – zum Beispiel bei Baumaschinen. Werkzeuge für Werkzeugmaschinen werden vermehrt aufgefrischt und in Kombination mit digitalen Tools sogar individuell gekennzeichnet. Dies hat den Vorteil, dass Kunden ihre Werkzeugmaschinen nicht neu einstellen müssen, wenn sie das identische Werkzeug benutzen können. Diese Ansätze sind auch ökonomisch interessant.
Die grösste Herausforderung sind die Servicemodelle. Sie wurden beispielsweise für Licht («pay per lux»), Flugzeug- und Schiffsturbinen («pay per hour») oder Lasermaschinen («pay per part») bereits implementiert. Von einer breiten Umsetzung ist man aber noch weit entfernt. Hier benötigt es nicht nur viel Know-how und eine holistische Sicht, sondern auch Kollaboration entlang der Wertschöpfungsketten.
Die Anforderungen an Instandhalter sind in den vergangenen Jahren zunehmend gestiegen. Wie profitiert die Instandhaltung vom Nachhaltigkeits-Boom?
Die längere Nutzung von Produkten, auch Maschinen, ist ein Teil der Kreislaufwirtschaft. Damit werden die Ressourcen länger in der Nutzungsphase gehalten. Natürlich gab es diese Bestrebungen aus Kostengründen schon früher, nun hat sie aber auch eine ökologische Komponente. Reparieren statt Ersetzen ist die Maxime, was diesen Wirtschaftszweig stärkt. In der Schweizer Tech-Industrie ist aber auch dies kein neues Konzept – die Langlebigkeit ist ein wichtiger Grund für den Markterfolg. Gerade in der Maschinenindustrie waren Reparatur, Wartung oder die lange Verfügbarkeit von Ersatzteilen schon lange Standard, bevor das Konzept der Kreislaufwirtschaft politisch lanciert wurde. Unsere Waschmaschinenhersteller stellten ihre Ersatzteile beispielsweise schon 15 Jahre zur Verfügung, lange bevor die Regulierung zehn Jahre von ihnen verlangte.
Wie lassen sich Ressourcen optimieren und nachhaltige Produkte produzieren?
Die Energie- und Materialeffizienz in Produktionsprozessen können mit verschiedenen Massnahmen erhöht werden. Beides führt zu Kosteneinsparungen und ist im Hinblick auf das Ziel der Klimaneutralität, der Ressourcenschonung und der sicheren Energieversorgung wichtig. Aktuell sind PV-Anlagen auf Industriedächern, nachhaltige Materialien oder die Elektrifizierung der Flotte oft im Gespräch. Zur Identifizierung der richtigen Massnahmen empfehlen wir, sich Rat von den Experten der EnAW (Energieagentur der Wirtschaft) oder von Reffnet (Netzwerk für Ressourceneffizienz) zu holen. Neben den Produktionsprozessen in der Schweiz spielen selbstverständlich auch die Produkte eine grosse Rolle, und zwar global. Die Tech-Industrie exportiert 80 Prozent ihrer Produkte ins Ausland. Dort fällt die Energieeffizienz je nach Strommix noch deutlicher ins Gewicht, vor allem bei langlebigen Produkten. Und schliesslich liegt ein grosser Hebel in der Lieferkette, also bei der Entscheidung, welche Materialien oder Bauteile wo eingekauft werden. Von den Umweltwirkungen eines in der Schweiz produzierten Tech-Produktes fallen 80 bis 90 Prozent in der ausländischen Lieferkette an. Dies zeigt auch, wie stark die Schweizer Tech-Industrie mit dem internationalen Handel verwoben ist. Nachhaltiger Einkauf kommt zwar vermehrt zum Zuge, nur: Nicht immer kann zwischen verschiedenen Lieferanten, Produktionsländern oder Produktionsarten gewählt werden.
Welche Innovationen sind für nachhaltige Lösungen im zunehmend anspruchsvollen Umfeld nötig?
Neben Lösungen, die Energie- und Materialeinsparungen generieren, sehe ich Bedarf bei nachhaltigen Materialien und nachhaltigen Geschäftsmodellen. Beim Einsatz von Materialien sollte von Anfang an auch der Aspekt der Nachhaltigkeit beachtet werden, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden, oder gar einen Schritt voraus zu sein. Neue Geschäftsmodelle können nachhaltigere Lösungen und mehr Wertschöpfung ermöglichen, beispielsweise das Flottenmanagement für Werkzeuge auf Baustellen. Die Herausforderung ist, Entwicklungen wie Kreislaufwirtschaft und Klimaneutralität, genauso wie die Digitalisierung, vorausschauend aufzunehmen. Nachhaltigkeit gehört in den Innovationsprozess.
Wie bewältigen die Unternehmen der Tech-Industrie die Anforderungen zu Berichterstattungspflichten im Bereich Nachhaltigkeit in der Schweiz und der EU?
In den vergangenen Monaten mussten sich viele Unternehmen mit den Schweizer Auflagen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung und Sorgfaltspflicht beschäftigen. Dies betrifft erstmals das Geschäftsjahr 2023 und primär die Grossen. Aber auch KMU müssen abschätzen, ob bei ihren Zulieferern Kinderarbeit vorkommen könnte, und werden wiederum von ihren grösseren Kunden für die Nachhaltigkeitsberichterstattung in die Pflicht genommen – dies stellt sie vor grosse Herausforderungen. Wir unterstützen unsere Mitglieder, indem wir ihnen aufzeigen, was ‹nice to have› ist und was Pflicht. Zudem stellen wir ihnen verschiedene Hilfsmittel zur Verfügung. Wichtig scheint mir: Die Umsetzung von Nachhaltigkeit ist ein kontinuierlicher Prozess. Es muss nicht alles von Anfang an perfekt sein, aber die Themen werden auch nicht wieder verschwinden.
Auch die zunehmende Regulierung von Chemikalien spielt hierbei eine Rolle. Was bedeutet das?
Das Chemikalienrecht ist seit jeher ein ‹moving target›. Aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse kommen immer wieder zusätzliche Stoff e in den regulatorischen Fokus. Das macht grundsätzlich Sinn. In der Praxis bedeutet dies jedoch, dass bei jedem neu oder strenger regulierten Stoff die bestehenden Anwendungen nach alternativen Materialien suchen müssen – gefolgt von Tests zur technischen Machbarkeit, Anpassungen von Produktionsprozessen, Überzeugung von Kunden oder Zulassungen beispielsweise für Anwendungen für Trinkwasser, Lebensmittel oder den Luftverkehr. In der Regel ist das teuer und zeitaufwendig.
In einer Vielzahl von Produkten und Materialien werden PFAS, sogenannte Ewigkeitschemikalien, verwendet. In die Umwelt freigesetzte PFAS stellen ein potenzielles Risiko für die menschliche Gesundheit dar. Welche Auswirkungen hätte ein PFAS-Verbot für die Schweizer Tech-Industrie?
Wir gehen von grossen negativen Auswirkungen aus, und zwar auf verschiedene Wertschöpfungsketten in Europa. Nicht weil PFAS in so grossen Mengen in unserer Industrie eingesetzt würde, sie sind aber für verschiedene Anwendungen essenziell, insbesondere in Bereichen, die extremen Bedingungen ausgesetzt sind, beispielsweise hohen Temperaturen, starkem Abrieb, hoher Spannung oder aggressiven chemischen Substanzen. Unbedenkliche Alternativen liegen nicht in jedem Fall vor oder gehen einher mit signifikanten Einbussen bezüglich Energie- und Materialeffizienz. In der Tech-Industrie geht es hauptsächlich um den Einsatz von polymeren PFAS wie Teflon, die an sich nicht bedenklich sind. Trotzdem wird ein Verbot dieser Stoffe diskutiert. Dies hätte Einfluss auf diverse Technologien, die zu den Nachhaltigkeitszielen wie Klimaneutralität, Energieeffizienz oder Kreislaufwirtschaft beitragen, zum Beispiel Photovoltaik-Anlagen oder Rotorblätter von Windkraftwerken. Mit dem Regulierungsvorschlag entstehen somit grosse Zielkonflikte, die zu adressieren sind.
Wann rechnen Sie in welchem Umfang mit einem PFAS-Verbot, und wie würde sich dieses auf die Schweiz auswirken?
Im Moment ist sowohl der Zeitplan als auch der genaue Inhalt des Verbots unsicher. Die Arbeiten in der EU wurden aufgrund der vielen eingegangenen Stellungnahmen verzögert. Wenn der Entscheid einmal vorliegt, gibt es zudem eine Übergangsfrist. Diese wurde mit 18 Monaten vorgeschlagen, was für die Suche und Umsetzung einer technischen Alternative nicht viel Zeit ist. Da die Schweiz nicht Mitglied der EU ist, würde dieses Verbot bei uns nicht gelten. In die EU exportierte Produkte hingegen müssen die Vorgaben einhalten. Ausserdem prüfen die Schweizer Behörden in solchen Fällen genau, wie sie analog regulieren können. Derzeit wird an einem Aktionsplan zu langlebigen Chemikalien gearbeitet, den eine Motion aus dem Nationalrat gefordert hat. Dieser könnte das weitere Vorgehen skizzieren.
Die industrielle Transformation ist in vollem Gange. Wie trägt die Digitalisierung zu einer nachhaltigen Zukunft bei?
Die Digitalisierung ist ein wichtiger Hebel und ermöglicht erst gewisse Ansätze: Mit Sensoren kann vorausschauend gewartet werden. Mit digitalen Lösungen sollen Informationen einfacher entlang der Wertschöpfungskette weitergereicht werden, die für die Kreislaufwirtschaft relevant sind. Mit Nutzungsdaten können kundenangepasste, ressourceneffiziente Lösungen angeboten werden. Mit digitalen Zwillingen kann die Nutzungsphase optimiert werden. Das Potenzial scheint mir sehr gross zu sein. Allerdings muss die Innovation dafür mit den Konzepten der Nachhaltigkeit und den technologischen Möglichkeiten der Digitalisierung angegangen werden.
Keine Frage – der Mensch belastet die Erde über Gebühr. Daher: Welchen Appell richten Sie an unsere Leser?
Den Unternehmern unter ihnen rate ich, sich frühzeitig, aber schrittweise, mit den Themen Nachhaltigkeitsstrategie, Berichterstattung, Klimaneutralität und Kreislaufwirtschaft zu beschäftigen. Hilfestellung bieten beispielsweise unsere Swissmem-Plattformen, die EnAW, Reffnet und zahlreiche Initiativen. Das jüngere Publikum möchte ich zudem ermutigen, einen technischen Beruf zu erlernen oder ein technisches Studium zu wählen und das Erlernte im Sinne der Nachhaltigkeit für gute Lösungen einzusetzen. Wir werden noch sehr viele gute und wirtschaftlich umsetzbare Innovationen brauchen, bei denen von Anfang an die Nachhaltigkeit mitgedacht wird.
Das Interview führte Joachim Vogl, Chefredaktor Technische Rundschau