Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das Wort «Strommangellage» hören?
Dr. Jean-Philippe Kohl: Grundsätzlich ist es ein Jammer, dass wir uns über eine Strommangellage überhaupt Gedanken machen müssen. Bis vor wenigen Jahren war die sichere Stromversorgung in der Schweiz eine Selbstverständlichkeit. Das ist offensichtlich nicht mehr der Fall und man muss die Frage stellen, wie es so weit kommen konnte. Schliesslich hat das Bundesamt für Bevölkerungsschutz schon lange vor der aktuellen Krise eine Strommangellage als potenziell grösstes Risiko für die Schweiz identifiziert. Nach der ungenügenden Vorbereitung auf das Pandemierisiko stellen wir diese mangelhafte Krisenvorsorge nun also einmal mehr fest.
Was halten Sie von den Vorschlägen des Bundes, wie bei einer Strommangellage verfahren werden soll?
Oberstes Ziel muss es sein, dass die Schweiz gar nicht erst in eine Strommangellage gerät. Sollte es trotzdem geschehen, dann muss diese so bewältigt werden, dass der volkswirtschaftliche Schaden möglichst gering gehalten werden kann.
Die in den Verordnungen vorgesehene Strom-Kontingentierung und erst recht die zyklischen Strom-Abschaltungen werden den betrieblichen Realitäten vieler Schweizer Industriefirmen nicht gerecht. Während ein Teil der Betriebe bei einer Kontingentierung/Abschaltung notfalls mit reduzierter Energieversorgung in Teilen weiterproduzieren kann, wird dies aus prozesstechnischen Gründen für viele andere Firmen nicht möglich sein. Diese werden im Falle einer Stromkontingentierung/zyklischen Abschaltung ihren Betrieb gänzlich einstellen müssen. Zentral ist es deshalb, den Unternehmen im Falle von Kontingentierungen möglichst viel Flexibilität und damit Handlungsoptionen zur Verfügung zu stellen. Die Wirtschaft hat dafür in Eigeninitiative die Plattform «mangellage.ch» erstellt, auf der die Firmen ihre Kontingente untereinander handeln können. So können Verbrauchsrechte, welche z.B. infolge Herunterfahrens der Produktion nicht verwendet werden, anderen Unternehmen zur Verfügung gestellt werden. Grosser Dank gilt an dieser Stelle dem Energiedienstleister Enerprice, welcher die Plattform mangellage.ch konzipiert und aufgebaut hat.
Was sind Ihre konkreten Kritikpunkte an den vorgesehenen Massnahmen?
Es sind im Wesentlichen drei Aspekte, die verbessert werden mĂĽssen:
- Bei der Strom-Kontingentierung ist der vorgesehene 100 MWh-Schwellenwert zu streichen, weil damit Firmen mit geringerem Stromverbrauch gar nicht kontingentiert werden. Zur Stromeinsparung haben aber alle Firmen beizutragen. Der vorgeschlagene Schwellenwert führt nämlich dazu, dass der Kontingentierungssatz für die Grossverbraucher höher ausfällt, wenn die kleineren Verbraucher ausgenommen werden.
- Die Referenzmenge, auf deren Basis die Kontingentsmenge berechnet wird, ist für die Betriebe realitätsnäher zu definieren, damit Corona-, zyklische oder Zufalls-Effekte ausgeebnet werden können.
- Im Ernstfall kann der oben erwähnte Kontingentenhandel für die Weiterexistenz von Unternehmen und Arbeitsplätzen entscheidend sein. Dieser ist gemäss Verordnung jedoch maximal als Pilot vorgesehen. Das ist zu wenig und nicht akzeptabel. Es ist alles daran zu setzen, dass ein umfassender Kontingentshandel bereits im Winter 22/23 möglich wird.
Sieht Swissmem weitere Massnahmen, die zur Vermeidung einer Strommangellage vorgesehen werden sollten?
Swissmem setzt sich für eine zusätzliche Massnahme ein, die in der bisherigen Kaskade einer Strommangellage noch nicht vorgesehen ist: Es muss die Möglichkeit des kontrollierten Lastabwurfs bei einer überschaubaren Anzahl von Grösstverbrauchern geprüft werden. Das gezielte und frühzeitig planbare freiwillige Abschalten von Lasten gegen Entschädigung eröffnet ein zusätzliches, grosses Reduktionspotenzial, welches wesentlich dazu beitragen kann, dass nicht die ganze Wirtschaft kontingentiert werden muss.
Mehr dazu, wie Swissmem die EntwĂĽrfe der Strom-Notverordnungen im Detail beurteilt, erfahren Sie hier.